- Pressemitteilung - Protokoll -
Die Geschichte der russischen Kriminalität
Von Alexander Rahr und Philipp Pachomow - Körber-Arbeitsstelle Rußland/GUS - Deutsche Gesellschaft für auswärtige Politik (DGAP)
Anfänge unter Stalin - Ohnmacht des Staates - Die Transformation der kriminellen Elite -
Die heutige "Russenmafia" - Globalisierung der Kriminalität
Mit der Reformpolitik von Michail Gorbatschow wurden in den Staaten Osteuropas revolutionäre politische, soziale und wirtschaftliche Prozesse ausgelöst. Doch die Liberalisierung und die damit verbundene Schwächung des Staates führten auch in der kriminellen Welt der ehemaligen Sowjetunion zu Veränderungen. Die russische organisierte Kriminalität ist keine vorübergehende und schon gar nicht eine zufällige Erscheinung. Die kriminelle Welt, die jahrzehntelang vom KGB kontrolliert, zuweilen auch kultiviert wurde, war während der siebzigjährigen Herrschaft der kommunistischen Nomenklatura längst zu einem Staat im Staate mit eigenen Gesetzen und Verhaltensregeln geworden. Mit dem Beginn der Reformen strömte das Verbrechen in die sich nun öffnenden Freiräume, verschmolz mit dem korrumpierten Teil des Staatsapparats und strebt heute nach Einfluß auf die Politik und das öffentliche Leben Rußlands. Nicht nur für die junge russische Demokratie, sondern auch für die westlichen Industrieländer wird das organisierte Verbrechen der ehemaligen Sowjetunion, oft auch als die "Russenmafia" bezeichnet, zu einer aktuellen Bedrohung. Die Bekämpfung der internationalen Kriminalität ist inzwischen zu einem weltpolitischen Thema größter Tragweite auf dem Gipfeltreffen der G-8 Staaten geworden.
Anfänge unter Stalin
Im Jahre 1929 begannen die ersten Massenrepressionen gegen vermeintliche politische Gegner des stalinistischen Regimes. Schon bald stieg die
Zahl der politischen Häftlinge in den Gefängnissen und Lagern auf ein kolossales Ausmaß an. Die damalige sowjetische Institution für innere
Sicherheit, das OGPU (russisch: Staatliche Politische Sonderverwaltung), ein Vorläufer des späteren KGB, befürchtete, daß es in den
Konzentrationslagern zu Aufständen kommen könnte. Als potentielle Unruhestifter galten vor allem die politischen Häftlinge. Um diese Gefahr in den
Griff zu bekommen, begann die OGPU mit den sogenannten "Zhygany" und "Urkagany", den professionellen Verbrechern, die in der kriminellen Welt
besonderes Ansehen genossen, zu kooperieren. Es wurde eine entsprechende Strategie für die operative Arbeit mit diesen "kriminellen Autoritäten"
ausgearbeitet. Man beabsichtigte, mit Hilfe der "kriminellen Autoritäten" und ihren kriminellen Gruppierungen, die notwendige Disziplin unter den
politischen Häftlingen, die offiziell als "Volksfeinde" bezeichnet wurden, zu gewährleisten. Man könnte die Kooperation wohl am besten als stille
Übereinkunft zwischen den staatlichen Stellen und den kriminellen Anführern bezeichnen: Letztere sorgten für Disziplin und Stabilität in den Konzentrationslagern
und Gefängnissen, vor allem unter den politischen Häftlingen, die Lagerleitung ließ ihnen im Gegenzug freie Hand im Lager und gewährte gewisse
Privilegien. Sie mußten nicht arbeiten und durften sich auf dem Lagergelände frei bewegen. Die Lagerverwaltung war dabei angewiesen, die Autorität
der kriminellen Anführer bei den restlichen Häftlingen mit allen Mitteln zu fördern. Mit der Zeit festigte sich die Beziehung der Lagerleitung zu den
"kriminellen Autoritäten", unbemerkt geriet sie langsam in die Abhängigkeit der kriminellen Führer, ohne deren Hilfe eine Kontrolle der Lager
unmöglich geworden war.
Das wichtigste Machtinstrument der OGPU waren Gerüchte, die über die jeweiligen "kriminellen Autoritäten" in der kriminellen Welt verbreitet wurden. So konnte beispielsweise das Image eines bestimmten Verbrechers aufgebaut werden, in dem Gerüchte verbreitet wurden, die betreffende Person sei bei polizeilichen Verhören besonders standhaft gewesen. Oft gab es nicht einmal direkte Kontakte zwischen OGPU und den "kriminellen Autoritäten". Es wurde vielmehr ein Umfeld geschaffen, in dem die Bildung einer von den "kriminellen Autoritäten" beherrschten Ordnung begünstigt wurde. Zu der stillen Übereinkunft gehörte es ebenfalls, daß sich die "kriminellen Autoritäten" und ihre Gruppierungen nicht in die wirtschaftlichen und politischen Prozesse des Landes einmischten. Der Beschluß über diese Strategie ist im Dekret Nr. 108/65 der OGPU vom 8. März 1931 fixiert, das den Einsatz von gewöhnlichen Verbrechern im Kampf gegen die "Volksfeinde", die politischen Häftlinge, erlaubte.
Damit wurde de facto eine Klassenunterteilung der Häftlinge in "Bytowiki" (gewöhnliche Verbrecher) und "Volksfeinde" geschaffen. Die "kriminellen Autoritäten" begannen bald darauf, sich in der kriminellen Welt als "vory v zakone", als "Diebe im Gesetz", zu bezeichnen. Sie bildeten die kriminelle Elite der Sowjetunion und trugen zur Stabilisierung und Konsolidierung der kriminellen Welt bei. Ihr Ansehen bei den Kriminellen ermöglichte es ihnen, Konflikte und Streitigkeiten zu schlichten, so daß sie bald die Rolle eines Schiedsgerichtes für die kriminelle Welt einnahmen. Ein in den 30-er Jahren entstandenes "Diebesgesetz" half den "kriminellen Autoritäten", ihre Macht zu festigen. Es existierte jedoch nie eine Niederschrift dieses Gesetzes, vielmehr handelt es sich um Verhaltensprinzipien, die sich aus der kriminellen Praxis ergaben und nach denen die Kriminellen leben mußten. All diese Umstände trugen erheblich zur Bildung eines kriminellen Organismus innerhalb der Sowjetunion bei, der mit der Zeit zunehmend an Autonomie gewann.
Eines der wichtigsten Prinzipien der kriminellen Welt war die Nichteinmischung in die Politik und das Fernhalten vom öffentlichen Leben. Dieses Prinzip beruhte, wie bereits erwähnt, auf einer stillen Übereinkunft mit den staatlichen Strukturen. Es hatte seinen Ursprung zum Teil aber auch in einer "kriminellen Romantik", die das verklärte Idealbild einer "kriminellen Bruderschaft" hervorbrachte, welche nicht nach den Werten der etablierten Gesellschaft leben wollte. Dieses Prinzip der Nichteinmischung sollte in den 80-er Jahren und dem schleichenden Zerfall der Sowjetunion in Frage gestellt werden und damit die Transformation der sowjetischen kriminellen Welt zur heutigen "Russenmafia" beschleunigen.
Ohnmacht des Staates
Nach der Vernichtung der politischen Häftlinge versuchten die staatlichen Strukturen auch das professionelle Verbrechen wieder in den Griff zu
bekommen. In Rußland war das Verhältnis der Bevölkerung zu Verbrechern stets eine Mischung aus Neugier und Mitleid, was sich auch in der
Folklore und der Literatur des Landes niedergeschlagen hat. In einigen Teilen der sowjetischen Gesellschaft wurden die Kriminellen, die nach dem
"Diebesgesetz" lebten, als "freie Vögel" oder moderne "Robin Hoods" romantisiert und gewannen insbesondere für die jüngere Generation an
Anziehungskraft. Diese Tatsache barg einen nicht zu unterschätzenden sozialen Sprengstoff. Indem Stalin der kriminellen Elite den Kampf ansagte,
hoffte er, das Verbrechen als ganzes zu schwächen und seiner Anziehungskraft zu berauben. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges wurde kein
einziger "Dieb im Gesetz" aus den Gefängnissen und Lagern entlassen. Die auslaufenden Haftzeiten wurden verlängert und viele der "kriminellen
Autoritäten" starben hinter Gittern. Obwohl das Zentrum der sowjetischen kriminellen Welt in den Lagern und Gefängnissen war, hatte die kriminelle
Evolution auch in der Freiheit stattgefunden, so daß man zu dieser Zeit von einer homogenen kriminellen Welt sowohl inner- als auch außerhalb der
Lager sprechen konnte.
In der Zeit von 1947 bis 1953 führten die staatlichen Strukturen die sogenannte "Sutchja vojna", einen Krieg mit einer bisher unbekannten Härte, gegen die "Diebe im Gesetz". Das KGB versuchte, die "Kriminellen Autoritäten" durch Intrigen gegeneinander aufzuhetzen. Eine Nebenerscheinung dieses Kampfes war die Einrichtung sogenannter "roter Zonen". In diesen Straflagern wurden überwiegend die von den "kriminellen Autoritäten" degradierten und ausgestoßenen Kriminellen gehalten, die gegen das "Diebesgesetz" verstoßen hatten. In den "roten Zonen" hatte das "Diebesgesetz" keine Gültigkeit, die etablierte kriminelle Hierarchie war außer Kraft. "Diebe im Gesetz", die für den NKWD unbequem geworden waren, wurden ebenfalls in diese Lager eingeliefert. Hier wurden sie aber nicht mehr durch die Lagerverwaltung unterstützt und mußten die Rache der verstoßenen Kriminellen fürchten.
Diese Maßnahmen brachten jedoch keine spürbaren Ergebnisse. Die "Diebe im Gesetz" spielten als Gegenreaktion ihre Macht in den Lagern aus und bedrohten die Stabilität und Disziplin. Es kam zu Unruhen und Aufständen in den Gefängnissen. Der Staat war gezwungen, wieder mit den "Dieben im Gesetz" zu kooperieren. Diese forderten und bekamen nun aber einen noch größeren Aktionsspielraum in den Lagern und konnten erstmals auch Kontakt zur Außenwelt aufnehmen. Die Folge war, daß die Lager und Gefängnisse zu einer Art Schaltzentrale des sowjetischen Verbrechens wurden, das sich langsam aber sicher über das gesamte Land ausbreitete. Zu den wichtigsten Einnahmequellen des sowjetischen Verbrechens zählten der Schmuggel von Edelmetallen und Kunstgegenständen, die Erpressung von Unternehmern im Untergrund (private Wirtschaftstätigkeit war in der UdSSR gesetzlich verboten), der Rauschgifthandel und insbesondere der Raub von industriellen Gütern oder Vorerzeugnissen aus den Staatsbetrieben. Mit der Zeit kooperierten die kriminellen Strukturen oft auch direkt mit den Direktoren der Staatsbetriebe, die sich auf diese Weise ungestraft bereichern konnten.
Die Transformation der kriminellen Elite
In den 80-er Jahren wurde die Schwächung der Staatsmacht und damit auch des KGB offensichtlich. Immer größere Teile der staatlichen Strukturen
(sowohl die politischen, als auch die wirtschaftlichen) wurden korrumpiert und damit zu quasi-kriminellen Strukturen. Parallel dazu zeichneten sich
Veränderungen in der kriminellen Welt ab. Das Prinzip der Nichteinmischung in die Politik, das bislang als Grundpfeiler der kriminellen Welt galt,
drohte zu fallen. Innerhalb der kriminellen Elite vollzog sich eine Transformation. Neben den "Traditionalisten", überwiegend ethnische Russen, welche
die alten "Diebestraditionen" hochhielten, kamen die sogenannten "Modernisten" auf - insbesondere südliche Verbrecherclans aus dem Kaukasus, die
nach politischem und wirtschaftlichem Einfluß strebten. Sie hatten teilweise hervorragende Kontakte zu den Herrschaftseliten ihrer Republiken
aufgebaut, von denen sie unterstützt wurden.
1982 fand in Tiflis eine sogenannte "Shodka", ein Gipfeltreffen von "Dieben im Gesetz" statt. Unter anderem wurde die Frage der politischen Machtergreifung im gesamten Land diskutiert. Die "Shodka" von Tiflis sollte in die Geschichte der sowjetischen Kriminalität eingehen: die Gegensätze innerhalb der kriminellen Elite konnten nicht mehr überwunden werden, was zu einer endgültigen Zersplitterung in "Traditionalisten" und "Modernisten" führte.
Mit der schleichenden Zersetzung des Staates konnte das KGB den Ereignissen oft nicht mehr folgen. Erst spät bemerkte es die drohende Gefahr der kriminellen Machtergreifung. So setzte der sowjetische Geheimdienst zu einem letzten Generalangriff gegen die immer aggressiver agierende neue kriminelle Elite an. Der KGB versuchte, die traditionellen Vertreter der "Diebe im Gesetz" gegen die Modernisten auszuspielen, erstere hatten in der kriminellen Welt aber schon zu sehr an Einfluß verloren.
Die Arbeit des KGB wurde zusätzlich durch das Innenministerium behindert, dem die gesamten Polizeikräfte des Landes unterstanden. Die sowjetische Polizei, die von den staatlichen Strukturen unweigerlich den meisten Kontakt mit Kriminellen hatte, galt Ende der 80-er Jahre als der korrupteste Teil des Staatsapparates überhaupt. Dies beeinträchtigte erheblich die korrekte Arbeit der Staatsanwaltschaft und der Gerichte. In der Zeit von 1983 bis 1989 hatte sich die Kooperation zwischen KGB und Innenministerium sehr verschlechtert und war sogar in eine mehr oder weniger offene Feindschaft ausgeartet. Nach der Unabhängigkeit Rußlands wurde auf Anweisung Jelzins die Belegschaft des KGB um etwa 100.000 Personen reduziert. Viele der entlassenen KGB-Mitarbeiter fanden in den neuen kriminellen Strukturen Unterschlupf. Mit ihrer Spezialausbildung, ihren hervorragenden Kontakten und dem Geheimwissen waren sie für das organisierte Verbrechen ein gefundenes Fressen.
Die Überlegenheit der Modernisten und die Verfolgung der "Diebe im Gesetz" durch das KGB brachten die etablierte Ordnung der kriminellen Welt durcheinander. Die "kriminellen Autoritäten", die bislang eine Vorbildfunktion in der kriminellen Hierarchie erfüllten, hielten sich nun plötzlich selbst nicht mehr an das "Diebesgesetz". Anarchie zog ein in die kriminelle Welt, der Staat verlor zunehmend die Kontrolle. Es kam zu einem heftigen Anstieg von Gewalt und Straßenkriminalität. Der Kampf des KGB gegen die "Diebe im Gesetz" erinnert an den Kampf der Chinesen mit den Spatzen, welche in China zu einer Plage geworden waren, weil sie oft die gesamte Saat von den Feldern fraßen. Die landesweite Aktion zur Vernichtung dieser Vögel brachte aber das ökologische Gleichgewicht durcheinander und führte zu einer Flut von Insekten-Schädlingen. Mit seinem Verhalten leistete der KGB einer riesigen Armee von "Bespredelniki" (russisch: Gesetzeslose) Vorschub, die sich nicht mehr an die Prinzipien des "Diebesgesetzes" hielten und kriminellen Organisationen des Westens in ihrer frühen Entwicklungsstufe glichen. Die allgemeine Wirtschaftskrise des Landes und die sozialen Härten, denen die Bevölkerung ausgesetzt wurde, taten ein übriges. Es entstanden Gangs, neue Gruppierungen junger Leute, die sich zunächst mit einfacher Straßenkriminalität beschäftigten, aber recht bald begannen, ihre kriminellen Aktionen zu organisieren.
Mit den "Modernisten" begann eine neue Generation von kriminellen Führungspersönlichkeiten, überwiegend aus dem Kaukasus, eine immer größere Rolle zu spielen. Sie kooperierten mit den korrumpierten Mächten, kumulierten Kapital aus illegaler Tätigkeit und legalisierten es, indem sie es in den Wirtschaftskreislauf des Landes einführten. Die Grundzüge des organisierten Verbrechens werden sichtbar: es entstehen selbsttragende, strukturierte und disziplinierte Vereinigungen von Einzelpersonen oder Gruppen, deren Ziel die Kapitalakkumulierung durch ganz oder teilweise illegale Methoden ist, wobei sie durch korrupte staatliche Strukturen gedeckt werden.
Die heutige "Russenmafia"
Das moderne russische organisierte Verbrechen entstand also aus zwei Hauptquellen: den "Modernisten" unter den "Dieben im Gesetz" und den
korrupten Beamten auf allen Staatsebenen. Der im Westen geprägte Begriff "Russenmafia" ist jedoch ein wenig irreführend. Rußland wird als
potentiell reichstes und aufgrund seiner Größe am schwersten zu kontrollierendes Land der GUS von kriminellen Gruppierungen aller postsowjetischer
Staaten als Basis genutzt. Das bedeutet aber nicht, daß die Mafiagruppen ausschließlich aus ethnischen Russen bestehen. Etwa 8.000 kriminelle
Gruppierungen mit insgesamt etwa 100.000 Mitgliedern sind auf dem postsowjetischen Territorium aktiv, die 200 Größten unter ihnen haben sich
sogar zu internationalen Konglomeraten entwickelt und operieren weltweit.
Spätestens nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Westen mit dem organisierten Verbrechen aus dem Osten konfrontiert. In westlichen Geheimdienstkreisen glaubt man, daß das organisierte Verbrechen in Rußland die Protektion der regierenden Oligarchie genießt, die in der postsowjetischen Periode aufkam und während der Krankheit Präsident Jelzins 1996 ihre Macht weiter ausbauen konnte. Das russische Innenministerium, das heute den Kampf gegen das organisierte Verbrechen leitet, schätzt, daß in Rußland 40 Prozent der privaten und 60 Prozent der staatlichen Unternehmen sowie etwa 50 Prozent der Banken vom organisierten Verbrechen kontrolliert werden. Damit wären etwa zwei Drittel der russischen Wirtschaft direkt oder indirekt in der Gewalt der Mafia. Nach Angaben des CIA steht die Hälfte der 25 größten Banken Rußlands mit der organisierten Kriminalität in Verbindung. Banken sind oft die zentralen Komponenten von russischen Mafia-Gruppierungen und dienen insbesondere der großangelegten Geldwäsche auf internationaler Basis mit Zentren in Zypern, den Kanarischen Inseln und anderen off-shore-Bankzonen weltweit. Bis zu 300 Milliarden US-$ sollen nach Angaben des ehemaligen russischen Innenministers Anatolij Kulikow in den letzten fünf Jahren illegal außer Landes gebracht worden sein. Auch zahlreiche russische Medienorgane werden vom organisierten Verbrechen kontrolliert. "Transparency International", eine NGO, die sich mit dem Kampf gegen Korruption beschäftigt, schätzt Rußland als eines der korruptesten Länder der Welt ein und stellt es auf eine Stufe mit Nigeria, Bolivien und Kolumbien.
Die einzigen Organisationen, die heute in Rußland einen Wahlkampf finanzieren können, sind große Großbanken, Öl- und Gaskonzerne oder kriminelle Gruppierungen. Parteien verkaufen vor Parlamentswahlen sichere Listenplätze an zahlungskräftige Kandidaten. Mit seinen riesigen Vermögen kann das organisierte Verbrechen eigene Kandidaten in regionale und föderale Parlamente führen, erlangt dadurch parlamentarische Immunität und politischen Einfluß. Staatliche Programme zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität werden nur mangelhaft implementiert, da es an der Finanzierung mangelt. Man versucht, die Symptome zu bekämpfen, anstatt strukturelle Reformen einzuleiten.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Rußlands kam 1991/92 eine Regierung der Radikalreformer an die Macht. Von 1992 bis 1994 begann die erste Phase der russischen Privatisierung. An alle russischen Staatsbürger wurden sogenannte Privatisierungs-Voucher ausgegeben, die gegen Aktien staatlicher Unternehmen eingetauscht werden konnten. Nach dem Verteilen der Voucher an die Bevölkerung verging einige Zeit bis zum Beginn der tatsächlichen Privatisierung. In dieser Zeit fand ein aktiver Aufkauf der Voucher durch kriminelle Strukturen von sozial schwachen Schichten statt: denn wer zu dieser Zeit über die notwendigen Finanzmittel verfügte, konnte sie kaum auf ehrlichem Wege verdient haben. Für die organisierte Kriminalität stand damit aber der Übernahme großer Staatsbetriebe und der Legalisierung ihrer schwarzen Gelder nichts mehr im Wege. Ausländisches Kapital war von der Privatisierung ausgeschlossen.
In der zweiten Privatisierungsphase sollten die Staatsbetriebe nunmehr direkt auf Auktionen an den meistbietenden verkauft werden. Das organisierte Verbrechen kam diesmal durch die Bestechung der verantwortlichen Beamten zum Erfolg und konnte auf abgekaterten Auktionen Staatsbetriebe zu fantastisch niedrigen Preisen ersteigern. Allein 1996 wurden insgesamt 1.750 strafrechtliche Delikte im Zusammenhang mit der Privatisierung registriert. Nach Angaben des Analytischen Zentrums der Russischen Akademie der Wissenschaften wurden während der Privatisierung über 50 Prozent des Kapitals und etwa 80 Prozent der stimmberechtigten Aktien in die Hände einheimischer und ausländischer krimineller Strukturen transferiert.
Schon zur Zeit Gorbatschows, als die Gründung von Kooperativen als neue Unternehmensform neben Staatsbetrieben zugelassen wurde, entdeckten kriminelle Gangs das Geschäft der Schutzgelderpressung. Mit der Zahl der kleinen und mittleren Privatunternehmen stieg auch die Lukrativität dieses "kriminellen Geschäftszweiges". Es wurde unmöglich, ein Geschäft zu betreiben, ohne mit der Schutzgeld-Mafia in Kontakt zu geraten. Gewöhnlich beträgt die vom Unternehmen zu zahlende Summe 10 bis 30 Prozent vom Nettogewinn. Es entsteht der Begriff der "Kryscha" (russisch: Dach), einer Art Schutzorganisation, die das Unternehmen gegen Schutzgeldzahlungen vor anderen kriminellen Gruppierungen schützt und Schulden für das Unternehmen eintreibt. Sowohl eine kriminelle Gruppierung, als auch korrupte Mitarbeiter der staatlichen Strukturen wie Miliz oder Steuerpolizei können eine "Kryscha" sein. Nach Angaben des russischen Innenministeriums gehören etwa 30 Prozent der operativen Miliz-Mitarbeiter einer "Kryscha"-Struktur an, die Unternehmen gegen Entgelt ihre Schutzdienste anbietet. Arbeitet ein Unternehmen besonders erfolgreich, fordert die "Kryscha" anstatt der Geldzahlungen oft Anteile am Unternehmen und übernimmt es schließlich ganz. Das "Kryscha"-System ist heute ein Schlüsselelement der postkommunistischen Entwicklung Rußlands - es verbindet die kriminelle mit der legalen Wirtschaft.
Neben Schutzgeldforderungen sind die Unternehmen einer drakonischen Steuergesetzgebung ausgesetzt, was insgesamt einen schwer zu durchbrechenden Teufelskreis darstellt. Kaum ein Unternehmen kann alle Steuern, die es nach geltendem Steuerrecht zahlen müßte, tatsächlich bezahlen. Steuerhinterziehung ist daher eine in Rußland übliche Praxis. Dies wiederum macht die Unternehmen für die Mafia erpreßbar. An die Stelle der staatlichen Steuerinspektion tritt der kriminelle Steuereintreiber. Trotz dieses bekannten Zusammenhangs konnte bis heute keine grundlegende Reform des russischen Steuerrechts verabschiedet werden. Eine Beibehaltung des Status Quo kommt nur der Mafia zugute und es drängt sich wiederum der Verdacht der Korruption innerhalb der russischen Legislative auf.
Das russische Militär gilt auf allen Ebenen als eine der korruptesten staatlichen Strukturen. Soldaten müssen heute noch monatelang auf ihren Sold warten und sind gezwungen, sich ihren Lebensunterhalt auf andere Weise zu verdienen. Zudem war die sowjetische Armee stets ein Staat im Staate, in den Außenstehende keinen Einblick hatten. Daran hat sich bisher nicht viel geändert, die Prozesse innerhalb der Militärstrukturen sind höchst undurchsichtig und unverständlich. Die Militärführung wird mit der Organisation von Drogentransporten, illegalen Waffenverkäufen und der Unterschlagung von staatlichen Geldern in Verbindung gebracht. Am Tschetschenienkrieg sollen einige hochrangige Militärs große Vermögen verdient haben, ebenso im vom Bürgerkrieg erschütterten Tadschikistan, das ein Knotenpunkt des Drogentransfers aus Afghanistan ist. Bei den Sezessionskämpfen in Georgien und Moldawien hatte das russische Militär zugunsten der Separatisten mitgewirkt. Sowohl in Abchasien, als auch in Transnistrien hatten sich unter der Führung der regionalen Machthaber und des dort stationierten russischen Militärs rechtsleere Räume gebildet, die für großangelegte internationale kriminelle Operationen genutzt wurden.
Die russische organisierte Kriminalität stellt für das westliche Ausland heute zwei Hauptbedrohungen dar. Zum einen untergräbt es die politische Stabilität in Rußland, zum anderen besteht nach Meinung westlicher Experten weiterhin die Gefahr, daß durch die russische Mafia Komponenten zur Herstellung von Nuklearwaffen in die Hände von Terroristen oder sogenannten "Schurkenstaaten" gelangen könnten.
Globalisierung der Kriminalität
Insbesondere in den Bereichen Drogenschmuggel, Prostitution, Glücksspiel, illegale Einwanderung, Erpressung, Bankbetrug, Steuerhinterziehung,
Autoschieberei und Auftragsmorde verstärkt die russische Mafia ihr internationales Engagement. Neue Formen der Kriminalität wie Kreditkartenbetrug
oder "Computer-Delikte" nehmen in letzter Zeit dramatisch zu. Nach Angaben des FBI stehen russische Mafia-Gruppierungen bereits mit anderen
kriminellen Gruppierungen in über 50 Ländern in Verbindung. Dabei konzentriert sich die russische Mafia auf Mittel- und Westeuropa, die USA und
Kanada, Israel, Südafrika sowie Mittel- und Südamerika. In all diesen Gebieten findet eine aktive Geldwäsche statt, die es der Mafia ermöglicht, sich
in die legale Wirtschaft dieser Länder einzukaufen.
Die Ausbreitung der russischen Mafia begann im ehemals sozialistischen Osteuropa, wo anfangs ähnliche Rahmenbedingungen wie in der Sowjetunion herrschten. Die Expansion setzte sich nach Deutschland und andere westeuropäische Staaten fort. Berlin wurde schon bald zum Zentrum der "Russenmafia" in Westeuropa. Durch die bis Mitte der 90-er Jahre in Ostdeutschland stationierten Sowjettruppen konnte die Mafia auf eine entwickelte Infrastruktur zurückgreifen. Als nächstes stellte die Mafia Verbindungen nach USA und Südamerika her. Es wurden strategische Allianzen mit den dort ansässigen Mafia-Gruppierungen geschlossen, was die Tendenz zu einer internationalen kriminellen Arbeitsteilung aufweist. Der amerikanische FBI hat solche strategische Allianzen der russischen Mafia mit der "Cosa Nostra" in den USA, der sizilianischen "Ndrangheta" und "Camorra", der japanischen "Jakuza", chinesischen Triaden, koreanischen kriminellen Gruppierungen, türkischen Drogenschmugglern und kolumbianischen Drogenkartellen festgestellt. In den USA operieren auf den heutigen Tag etwa 30, in Deutschland 50 und in Italien 60 kriminelle russische Gruppierungen. Tatsächlich ist heute die internationale Kriminalitätsbekämpfung zu einem der wichtigsten Kooperationsbereiche zwischen Rußland und dem Westen geworden.
Anders als in der Sowjetunion ist die kriminelle Welt Rußlands heute alles andere als homogen. Ähnlich wie die gesamte Gesellschaft Rußlands, vollzog sich auch in der kriminellen Welt eine radikaler Wertewandel, der bis heute andauert. Der Verteilungskampf um das ehemalige "Volksvermögen" ist noch nicht abgeschlossen. Erst wenn das letzte "Tafelsilber" privatisiert sein wird, kann eine neue Etappe der Konsolidierung beginnen. Für die weitere Entwicklung des Landes sind zwei unterschiedliche Szenarios denkbar:
- Das negative Szenario sieht vor, daß sich Rußland zu einem halb-kriminellen Staat entwickelt, dessen führende Kräfte die zentralen Bürokraten, Unternehmenskartelle und die kriminelle Elite sein werden. Die kriminelle Elite hätte Einfluß auf innen- und außenpolitische Entscheidungen des Landes und würde eher den persönlichen Vorteil, als die nationalen Interessen Rußlands im Blick haben. Die Folge einer solchen Entwicklung könnte schließlich mit der Machtergreifung eines autoritären Anführers enden, der gegen Korruption und Kriminalität zwar hart durchgreifen, aber auch die Freiheitsrechte und demokratische Bestrebungen einschränken würde.
- Das zweite, positive Szenario geht von einer Legalisierung des kriminellen und halb-kriminellen Kapitals in Rußland aus. Dabei müssen die illegalen
Vermögen in destruktives und konstruktives Kapital unterschieden werden. Das destruktive Kapital wird weiterhin für illegale Operationen eingesetzt
und kann nur unter den Bedingungen der staatlichen Schwäche und der Instabilität im Lande rentabel eingesetzt werden. Sein Einsatz unterminiert
jegliche Anfänge der Schaffung eines Rechtsstaats. Der bei weitem größere Teil des illegalen russischen Kapitals dürfte jedoch dem konstruktiven
Kapital zugerechnet werden. Das konstruktive Kapital ist an stabilen wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen interessiert und strebt
zivilisierte Wirtschaftsformen an. Diese Rahmenbedingungen zu schaffen ist Aufgabe des Staates. Die russischen Fluchtgelder, die derzeit auf
ausländischen Banken geparkt werden, werden gerade aufgrund der instabilen Situation im Inland abgezogen und stammen oft nicht unmittelbar aus
illegalen Geschäften. Die Rückführung und Reinvestition dieser Gelder könnte der russischen Wirtschaft zum erhofften Aufschwung verhelfen. Wenn
also das konstruktive illegale Kapital mit dem ohnehin schon legalen Kapital verschmelzen könnte, wäre das destruktive Kapital isoliert und könnte
gezielter bekämpf werden. Auf dieser Grundlage könnte in der Perspektive ein russischer Rechtsstaat wachsen.
Rußlands zukünftige Entwicklung wird sich sicherlich im Rahmen dieser beiden Szenarios vollziehen. Welche Tendenz die Prozesse annehmen
werden, ist heute noch nicht abzusehen.
Von Alexander Rahr und Philipp Pachomow, November 98
Körber-Arbeitsstelle Rußland/GUS
Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik (DGAP)
- => Zur Konferenz (ab 5.11. 14:30) - Pressemitteilung -