Aurora - 2. Internet-Konferenz
Gehört Rußland zu Europa? - Thesen zum Thema
Dr. Gabriele Krone-Schmalz |
Für mich ist es keine Frage, daß Rußland zu Europa gehört (kulturell, politisch und selbst geografisch). Bei der
Sowjetunion war die Sache etwas komplizierter wegen der mittelasiatischen Republiken, die ja nun selbständig sind.
Und eben weil Rußland zu Europa gehört und der kalte Krieg zu Ende ist (oder etwa doch nicht?), braucht dieser Teil der Erde eine neue Sicherheitsstruktur und keine alte, anachronistische, die lediglich aufgeblasen ist und kein einziges Problem lösen wird, im Gegenteil.
Ich behaupte: Mit der Erweiterung nach Osten erzeugt die westliche Allianz gerade das, was sie fürchtet und
verhindern will: Instabilität in Europa.
Heute brauchen wir kein Verteidigungsbündnis gegen einen Staat, sondern gegen strukturelle Gefahren und
Regionalkonflikte, losgelöst von staatlichen Grenzen.
Nebenbei bemerkt: eine sicherheitspolitische Ordnung in Europa kann nicht ohne Rußland zustandekommen und schon gar nicht gegen.
Und noch eine Randbemerkung: In einer Geschichte von Lermontov sagt der Held: "Ich war kein schlechter Mensch.
Alle sahen schlechte Züge in meinem Gesicht - und sie sind erschienen."
In heutiger Sprache nennt man das self fulfilling prophecy.
Dr. Anna Kreikemeyer - 12 Thesen
Zusammenfassung: Rußland und Europa: Zwischen Öffnung und Abkehr
Zusammenfassung: Rußland und Europa: Zwischen Öffnung und Abkehr
In seiner Westpolitik strebt Moskau nach einer allseitigen Anerkennung als Großmacht und nach gleichberechtigter wirtschaftlicher, politischer und sicherheitspolitischer Zusammenarbeit. Kooperation bei Konflikt ist bis zu einem gewissen Grad möglich. Das bisher erreichte Maß an Zusammenarbeit zwischen dem Westen und Rußland ist aber noch nicht hinreichend, um bei einer möglichen innenpolitischen Verhärtung in Moskau neue sicherheitsgefährdende Ost-West-Spannungen zu verhindern. Gefährdungen gehen weniger von lauter Drohpolitik als von einer absehbar anhaltenden Untersteuerung der Politik aus. Ungewißheiten, Probleme und Grenzen in der russischen Westpolitik werden außerdem durch das mangelnde Interesse und die begrenzten Fähigkeiten des Westens, eine umfassende Unterstützungs- und Kooperationsstrategie zu entwickeln, verstärkt.
12 Thesen
1) Der schwerfällige Bau am "gemeinsamen europäischen Haus"
Vor zehn Jahren bestimmte Gorbatschows Konzept von einem "gemeinsamen europäischen Haus" die im Grunde seit
Peter dem Großen geführte russische Debatte über den Grad der Öffnung nach Europa. Seit der Auflösung der
Sowjetunion sucht die eurasische Macht Rußland nach ihrer nationalen Identität und damit erneut nach ihrem
Verhältnis zum Westen. Die Welle gesamteuropäischer Euphorie nach dem gescheiterten Putschversuch vom August
1991 ist längst abgeebbt. Seit 1993 wuchs die Skepsis in West und Ost, und der Bau am "gemeinsamen europäischen
Haus" kam nur schwerfällig voran. Es zeichnet sich ab: Die Bereitschaft Rußlands zur Öffnung nach Europa findet ihre
Grenzen in restaurativen und isolationistischen Zielen nationalpatriotischer und nationalistischer russischer
Interessengruppen.
Das Interesse des Westens, am "gemeinsamen europäischen Haus" zu bauen, findet seine Grenzen in solchen
ostpolitischen Konzepten, die das westliche Verständnis von Stabilität in Frage stellen. Immer wieder stellte sich die
Frage, ob das erreichte Maß an Kooperation zwischen dem Westen und Rußland ausreicht, um selbst bei einer
weiteren innenpolitischen Verhärtung in Moskau neuen sicherheitsgefährdenden Ost-West-Spannungen vorzubeugen
oder sie gar zu verhindern.
2) Moskau ist vom Westen "weggerückt"
Die Rahmenbedingungen der russischen Westpolitik haben sich seit dem Systemwechsel in mehrfacher Hinsicht verändert: Nach dem Zerfall der Sowjetunion rückten die Beziehungen Moskaus zu den GUS-Staaten, dem sogenannten nahen Ausland, bald in den Vordergrund. Das ferne Ausland, wie der Westen dementsprechend genannt wird, ist dadurch von Rußland "weggerückt".
3) Wer bestimmt die außenpolitischen Ziele in Moskau?
Die Bestimmung außenpolitischer Ziele gestaltet sich kontrovers und undurchsichtig. Konkretisierungen des vielbeschworenen nationalen Interesses sind dementsprechend beständig im Fluß. Verschiedene Interessengruppen (z.B. Handel und Banken, Energiewirtschaft, Landwirtschaft, Rüstungsindustrie, Militär) und neue Akteure (Wirtschaftsregionen, Republiken, Nationalbewegungen, Mafiakreise) konkurrieren mit oft wenig demokratischen Mitteln um Einfluß auf die Regierung. Das Insititutionengefüge ist noch zu schwach entwickelt. Innerhalb der politischen Führung bestimmen weiterhin Rivalitäten das Bild. Um den Präsidenten bilden sich immer wieder neue Kamarillas, die unkontrollierten Einfluß ausüben. Die Kompetenzverteilung zwischen verschiedenen Behörden innerhalb der Exekutive (Präsidialapparat, Sicherheitsrat, Regierung, Ministerien, Sicherheitsdienste) ist ungleichgewichtig und schwankend, die praktische Arbeit gestaltet sich ineffektiv, die demokratische Kontrolle wird erschwert. Der politische Entscheidungsprozeß ist in vielen Fällen nicht klar nachvollziehbar. Der außenpolitische Kurs ist durch Schwankungen, ja Widersprüche charakterisiert. Entscheidungen erweisen sich häufig als rein taktischer Natur.
4) Außenpolitische Kursverschiebungen
Schon seit Herbst 1992 kam es im Zeichen innenpolitischer Kräfteverschiebungen zu einer schleichenden Abkehr vom
"neuen Denken".
Orientierte man sich damals noch auf eine kooperative Eingliederung in die internationale Staatengemeinschaft, so
gewannen in der Folgezeit neo-eurasische und geopolitische Vorstellungen mit dem obersten Ziel der Sicherung des
nationalen Interesses an Einfluß. So bestimmt z.B. nach Ansicht der sogenannten Pragmatiker oder Realisten, die
geopolitische Lage eines Landes in entscheidendem Maße seine strategischen Ziele, die in Kategorien von Macht und
Einflußsicherung formuliert werden müssen. Seit 1993 stand selbst dieses Konzept unter permanentem Druck von
Nationalisten und Kommunisten, die gegenüber dem Westen in Feindbildern des Kalten Krieges und in
Verschwörungstheorien verharren. Der frühere Außenminister Andrej Kosyrew hatte den Kurswechsel in den letzten
Jahren zwar weitgehend mitvollzogen. Im Blick auf die Präsidentschaftswahlen schien es Boris Jelzin im Februar 1996
jedoch opportun, Kosyrew durch den weniger in der West- als in der GUS- und Nahostpolitik exponierten Jewgenij
Primakow zu ersetzen und damit Kritikern einer angeblich zu unkritisch auf den Westen orientierten Außenpolitik
Angriffspunkte zu nehmen. Nach diesem Personalwechsel kam es auf den ersten Blick zwar zu einer
Schwerpunktverlagerung vom Westen auf die GUS und auf die südöstlichen Nachbarstaaten Rußlands an. Es wurde
jedoch bald deutlich, daß die Diversifizierung in den Außenbeziehungen sich nicht unmittelbar gegen den Westen
richtete.
5) Nicht immer mit dem Westen, aber auch nicht gegen ihn
Seit der "Schocktherapie" (1992) werden die Reformen von einem Großteil der russischen Bevölkerung mit
Verelendung, Demütigung, Auflösung der "guten alten Ordnung" und dekadentem, mafiotischen Reichtum einer kleinen
Oberschicht gleichgesetzt. Auch unter den Eliten sind solche Einstellungen verbreitet. Die Führung versuchte, diese
Kritik zu integrieren, indem sie gegenüber dem sog. fernen Ausland einen allseitigen Großmachtanspruch erhob.
Sie forderte, in allen internationalen Fragen mit Respekt behandelt und gleichberechtigt einbezogen zu werden. Nach
außen hin weckt dieses demonstrative russische Selbstbewußtsein bisweilen Erinnerungen an die
Ost-West-Konfrontation. Verschiedene Mitglieder der außenpolitischen Elite und der russischen Führung legten bisher
jedoch Wert auf die Feststellung, daß es ihnen nicht um Konfrontation, sondern primär um die Verhütung von
Isolation und die Verwirklichung nationaler Interessen durch gleichberechtigte wirtschaftliche und politische sowie
insbesondere sicherheitspolitische Zusammenarbeit geht.
6) Wirtschaftliche Zusammenarbeit: unverzichtbar, aber umstritten
Mit dem außenpolitischen Kurswechsel erodierte auch der Konsens über die Notwendigkeit einer Integration des
Landes in die Weltwirtschaft.
Desillusioniert über Umfang und Wirkung der westlichen Unterstützung, betrachten die schärfsten Kritiker z.B. die
Beistandskredite des IWF als Instrument der Unterjochung. Gemäßigtere Kräfte fordern eine stärkere Anpassung an
die spezifischen Transformationsbedingungen des Landes. Auch in diesem Bereich machte die Führung der Opposition
deklaratorische Zugeständnisse und modifizierte nach außen hin ihre Erwartungshaltung sowie ihr Auftreten
gegenüber den Geberländern, ohne freilich auf die Unterstützungsleistungen zu verzichten oder gar die
Kooperationsbeziehungen abzubrechen. Gegenüber der G7 und den Weltwirtschaftsorganisationen IWF, Weltbank und
dem GATT/WTO verfolgte Rußland kontinuierlich und zunehmend erfolgreich das Ziel der Integration in die
internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit. Unterstützung und Einbeziehung in ostpolitische
Kooperationsstrategien suchte es weiterhin auch bei der EU, der EBWE und der OECD.
Das Partnerschaftsabkommen mit der EU
Auch wenn in Moskau niemand mehr wie noch 1991/1992 über Möglichkeiten eines EU-Beitritts laut nachdenkt, spielt
die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der EU eine zentrale Rolle, zumal 1995 auf die Märkte der Gemeinschaft über
44 Prozent der russischen Exporte entfielen. Das im Juni 1994 abgeschlossene Partnerschaftsabkommen harrt der
Ratifikation. Ein Interimsabkommen für den handelspolitischen Bereich konnte erst im Juli 1995 in Kraft treten, da die
EU es von einer Beendigung des Krieges in Tschetschenien und von der Einhaltung von Demokratie und
Menschenrechten abhängig gemacht hatte. Tschetschenien hatte aber nur aufschiebende Wirkung. Am 30. Januar
1996 wurde die Weiterführung des TACIS-Unterstützungsprogramms in Höhe von 2,22 Milliarden ECU bis 1999
beschlossen.
7) Politische Zusammenarbeit: Von der "strategischen Partnerschaft" zum "management of differences"
Die Prioritätensetzung in der Moskauer Westpolitik zwischen den USA einerseits und Westeuropa andererseits war immer schon schwankend. Mit dem nachdrücklichen Beharren auf Rußlands Großmachtrolle hat sie sich insbesondere zwischen 1994 und 1996 wieder zugunsten der Vereinigten Staaten verschoben. Moskau zog es vor, Differenzen in Schlüsselfragen regionaler europäischer Sicherheit bilateral mit Washington zu behandeln. So wurde während des 8. Treffens der Präsidenten Jelzin und Clinton in New York am 24. Oktober 1995 die bis dahin strittige Einbeziehung russischer Friedenstruppen in die IFOR in Bosnien ausgehandelt. Auch in der kritischen Frage der Flankenregelungen im KSE-Vertrag konnten im Oktober 1995 in bilateralen amerikanisch-russischen Verhandlungen auf höchster Ebene erste, wenn auch noch nicht hinreichende, Ansätze einer Kompromißlösung gefunden werden.
Was die Kooperation mit europäischen Institutionen anbelangt, so wurde Rußland nach mehrjähriger Wartezeit und einer einjährigen Suspension seines Gaststatus infolge der Militärintervention in Tschetschenien schließlich trotz mancher Kritik im Februar 1996 als Vollmitglied in den Europarat aufgenommen. Im April 1998 wurde schließlich die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert. In russischen Stellungnahmen wurde diese Einbeziehung zwar hoch geschätzt, die EU steht aber eindeutig als Gravitationszentrum Westeuropas im Vordergrund, dann folgen die europäischen Großmächte, allen voran die Bundesrepublik als wichtigster Wirtschaftspartner. Bei den bisherigen Treffen zwischen Boris Jelzin und Bundeskanzler Helmut Kohl wurde von beiden Politikern die freundschaftliche Verständigung demonstrativ herausgestellt. Während Boris Jelzin deklaratorisch Reformeifer bekundete, versprach Helmut Kohl, zuletzt im Zusammenhang mit den Verhandlungen um die NATO-Rußland-Grundakte 1996/1997, in enger Abstimmung mit den USA und Frankreich wiederholt weitere deutsche Unterstützung bei der Vergabe von Krediten durch IWF und Weltbank sowie bei der Einbeziehung Rußlands in internationale Gremien.
8) Sicherheitspolitische Zusammenarbeit: Ja zur Partnerschaft, nein zur NATO-Osterweiterung
Wie die frühere Sowjetunion hat das postsowjetische Rußland gegenüber der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) weiterhin das Interesse, europäische Sicherheit gleichberechtigt mitzugestalten. Trotz der Ablehnung seiner Vorschläge zum Ausbau der OSZE zu einer europäischen Sicherheitsordnung hielt Moskau bisher an dieser Perspektive fest. Damit gesteht es der OSZE zugleich weiterhin zu, als Katalysator der Reform zu wirken. Nach seiner Zustimmung zu gesamteuropäischen Werten und Normen ist Rußland mit der Herausforderung konfrontiert, einen Konsens über die Anwendung der OSZE-Instrumente zur Kontrolle dieser Normen (z.B. Mechanismen, Beobachter- oder Langzeitmissionen) zu ermöglichen. Die massiven Menschenrechtsverletzungen während der Militärintervention in Tschetschenien führten immer wieder zu zähen Verhandlungen in der OSZE.
Moskau und die NATO-Osterweiterung
Strukturell ähnlich wie das Verhältnis zur EU, aber wesentlich widersprüchlicher wegen der hier berührten
militärischen Fragen, gestaltet sich das Verhältnis Moskaus zur NATO. Der politischen Führung und der
außenpolitischen Elite erschien es paradox, daß der Westen zwar die Unteilbarkeit der europäischen Sicherheit
betont, hingegen nicht zum Aufbau eines entsprechenden Sicherheitsmodells bereit ist, sondern vielmehr die
NATO-Osterweiterung plant.
Die russische Debatte über diese Frage ließ eine deutliche Verhärtung erkennen. Die NATO wird in weiten Kreisen der
außenpolitischen Elite wieder als Relikt des Kalten Krieges betrachtet, ihre Osterweiterung als "feindseliger Akt"
angesehen. Im Vorfeld der Wahlen zur Staatsduma 1996 ließ kaum ein russischer Politiker eine Gelegenheit ungenutzt,
sich demonstrativ gegen Pläne zu einer NATO-Osterweiterung auszusprechen und Drohpolitik zu betreiben. Man
beschwor z.B. den Bruch des KSE-Abkommens, eine Verweigerung der Ratifikation von START II, den forcierten
Ausbau der GUS zu einer Gegenallianz, die Bündnispolitik mit asiatischen Staaten, die Möglichkeit taktischer
Nuklearschläge gegen Polen und Tschechien oder eines Einmarsches russischer Truppen in die baltischen Staaten,
falls diese der NATO beiträten.
Substantieller als Spekulationen über potentielle Arrangements mit einer NATO-Osterweiterung erscheint eine
Bestandsaufnahme der praktischen Sicherheitskooperation mit Moskau. Trotz oder wohl gerade wegen der Ablehnung
einer NATO-Osterweiterung nutzte Rußland die gleichberechtigte Mitgliedschaft im Nordatlantischen Kooperationsrat
(seit 1997 Euro-Atlantischer Partnerschaftsrat) und im NATO-Programm Partnerschaft für den Frieden bisher
konstruktiv. Von Juni 1995 bis zur Unterzeichnung der NATO-Rußland Grundakte im Mai 1997 bestand zwischen der
NATO und Rußland eine vertiefte politische Zusammenarbeit in einem institutionalisierten Konsultationsmechanismus
("16+1").
Nach den Präsidentenwahlen im Juli 1996 setzte sich in Moskau eine pragmatische, auf Kooperation abgestellte
Auffassung durch. Man verfolgte nun ganz offensichtlich das Ziel, möglichst optimale Sonderbeziehungen zur NATO
herzustellen. Das westliche Bündnis demonstrierte eine allseitige Einbeziehungsbereitschaft. Immer dann wenn die
Verhärtung auf russischer Seite zu stark zu werden drohte, wurden von den USA und vor allem von der
Bundesrepublik flankierende politische und abrüstungspolitische Abfederungsvorschläge gemacht. Darüber hinaus
strebten die westlichen Staaten eine enge Abstimmung untereinander an und versuchten, wie z.B. das Bonner
Gesamtkonzept, eine Verknüpfung zwischen der NATO einerseits und den KSE-Verhandlungen oder der
EU-Zusammenarbeit andererseits herzustellen.
Nach zähen Verhandlungen konnte am 27. Mai 1997, also vor der Entscheidung über die Osterweiterung im Juli 1997, zwischen der NATO und Rußland die Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit unterzeichnet werden. Seither stellt sich die Frage, ob die praktischen Ausfüllung der vorgesehenen Kooperationsvereinbarungen nicht durch die am Horizont allenthalben aufflackernde zweite NATO-Osterweiterung konterkariert werden könnte.
9) Kooperation bei Konflikt: gemeinsame Friedenssicherung in Bosnien
Seit Gründung der Kontaktgruppe im Frühjahr 1994 und insbesondere seit der Beteiligung einer russischen Brigade an
der IFOR im Oktober 1995 wird die Einbeziehung Rußlands in die Friedenssicherung in Bosnien-Herzegowina von
einigen westlichen Beobachtern als Beleg dafür angeführt, daß trotz des Konfliktes in der Frage der
NATO-Osterweiterung Kooperation zwischen Moskau und der NATO möglich ist.
Die Ziele der russischen Jugoslawienpolitik gingen mit denen der NATO-Staaten nicht immer konform. Angesichts des
innenpolitischen Drucks sah sich die Moskauer Führung immer wieder gezwungen, dem "Brudervolk" der orthodoxen
Serben deklaratorisch Tribut zu zollen, was seinen Niederschlag in der wiederholten Forderung nach Aufhebung des
Wirtschaftsembargos gegen die Republiken Serbien und Montenegro und nach einer politischen Regelung des
Konfliktes fand.
Trotz der überwiegend konfligierenden Zielsetzungen war bei der Friedenssicherung in Bosnien-Herzegowina aber
auch Sicherheitskooperation mit Moskau möglich. Rußland sprach sich für eine volle Ausschöpfung des Mandates der
UNPROFOR aus, beteiligte sich an der Truppe und erklärte sich wiederholt bereit, weitere Blauhelmsoldaten nach
Bosnien zu entsenden. In der Kontaktgruppe brachte Moskaus Kritik zwar mehrfach einen Konsens zum Scheitern.
Damit war aber keine Aufkündigung seiner Mitarbeit in der Gruppe verbunden.
10) Die Rußland-Politik des Westens: Routine und Zweckoptimismus auf Kosten des
Menschenrechtsschutzes
- Wirtschaft - Politik -
Moskaus Westpolitik wird zwar primär von den innenpolitischen Kräfteverhältnissen und seinen Beziehungen zu den
GUS-Staaten bestimmt, sie ist jedoch nicht unabhängig vom Interesse und den Fähigkeiten des Westens zur
Zusammenarbeit. Auch in Westeuropa hat sich das Spektrum der Einstellungen zu Rußland wieder verengt. "Falken"
kritisieren die russische GUS-Politik als (neo-)imperial. Realisten kommt eine Art "hegemonialer Stabilisierung" in der
GUS durch die Großmacht Rußland durchaus entgegen.
"Tauben" meinen nach wie vor, Präsident Jelzin strebe im Grunde weitreichende Reformen an, sei aber gegenwärtig
aus innenpolitischen Gründen zu Machtdemonstrationen gezwungen. Nur eine kleine Gruppe von Beobachtern macht
den Westen für die russische Westpolitik mitverantwortlich. Sie sind der Ansicht, die Partnerschaft mit Rußland drohe
zu scheitern, weil beide Seiten überhöhte Erwartungen im Hinblick darauf haben, was die jeweils andere Seite bieten
könne.
Die wirtschaftliche Unterstützung der führenden Industrienationen für Rußland ist mittlerweile zur Routine geworden. Es besteht zwar eine Fülle von Kooperations- und Unterstützungsprogrammen, der Elan, neue, dem Transformationsstand angemessene Strategien zu entwickeln, hat jedoch nachgelassen. Ob und inwieweit die gegenwärtige wirtschaftliche Kooperation die Reformen wirklich voranbringt, wird nicht nur in Rußland in Zweifel gezogen. So wurden IWF-Kredite ohne gezielte Einflußnahme auf die Struktur der Ausgaben vergeben, nicht von Leistungsnachweisen abhängig gemacht und nicht mit Maßnahmen zur Verhinderung der Kapitalflucht verbunden. Gelder aus dem EU-TACIS-Programm, aber auch die mit Hermesbürgschaften der Bundesregierung gesicherten Kredite dienen mindestens ebensosehr der Exportfinanzierung westlicher bzw. deutscher Unternehmen wie der Förderung des Systemwechsels in der GUS. Ein erleichterter Zugang zu westlichen Märkten für diese Länder läßt hingegen auf sich warten.
Bei der politischen Zusammenarbeit orientiert sich der Westen trotz der seit Ende 1993 allzu offensichtlichen
Verschiebung der Machtverhältnisse in Rußland nach wie vor ausschließlich auf Präsident Jelzin. Angesichts der
wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Abhängigkeiten von Rußland stellen westliche Führungen das Ziel der
Stabilität über den Einsatz für den Schutz der Wertegemeinschaft von Menschenrechten, Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit. Die Militärintervention in Tschetschenien demonstrierte der Jelzin-Führung die hohe
"Schmerzgrenze" des Westens und die Bereitschaft zum raschen Vergessen um der eigenen Interessen willen. Die
westliche Rußlandpolitik schwankte bisher bereits häufiger zwischen Bedrohungsvorstellungen und Zweckoptimismus
und drohte in demonstrativen Männerfreundschaften ihre Konturen zu verlieren.
In den letzten Jahren war gegenüber Moskau eine vage Doppelstrategie von Zuckerbrot und Peitsche zu beobachten,
in der einerseits die sich eng abstimmenden Mächte USA, Deutschland und Frankreich auf bilateraler Ebene und
andererseits die europäischen Organisationen auf multilateraler Ebene ihren jeweils unterschiedlich akzentuierten Part
spielen sollen. Auf der Ebene der institutionellen Kooperation versuchen die Westmächte, das russische Interesse an
Gleichberechtigung mit politischen Forderungen zu verknüpfen. Die interinstitutionellen Verbindungen z.B. zwischen
dem Europarat und der EU oder der EU und der OSZE ermöglichen es, linkages herzustellen und Druck ausüben, z.B.
was die Verletzung des Menschenrechtsschutzes durch Moskau anbelangt. So verfolgt die EU-Kommission das Ziel,
politische Interessen stärker mit der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu verzahnen und die Beziehungen Moskaus zur
EU mit einer dauerhaften OSZE-Präsenz in GUS-Konflikten zu verknüpfen.
11) Rußland - ein Partner bei der Gestaltung europäischer Sicherheit?
Die Kooperationsbeziehungen zwischen dem Westen und Rußland, insbesondere der Grad seiner Einbeziehung in
internationale Organisationen, haben sich seit 1991 kontiniuerlich erweitert. Nach sechseinhalb Jahren ist die
gesamteuropäische Dynamik zwar noch nicht zu einem Stillstand gekommen, gerät aber auf beiden Seiten an kritische
Grenzen: zum einen die schwer einschätzbare wirtschaftliche und politische Reformfähigkeit Rußlands, zum anderen
der Öffnungs- und Kooperationsbereitschaft des Westens. Die Grenzen manifestieren sich in der Weigerung, Rußland
als Vollmitglied in die G7, die NATO oder die EU aufzunehmen oder ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem unter
dem Dach der OSZE aufzubauen. Mittelfristig wird das Ringen um diese kritischen Grenzen die europäische Sicherheit
bestimmen. Drohen aus Grenzen aber wieder Mauern zu werden?
Die bestehenden Kooperationsstrukturen sind noch immer asymmetrisch und bergen Risiken struktureller Gewalt in
sich. Weder die wirtschaftliche noch die politische Zusammenarbeit per se hat schon ein so hohes Integrationsniveau
erreicht, daß die Eigendynamiken einer Sicherheits- und Friedensgemeinschaft wie im Fall der EU wirksam werden
könnten. In Rußland ist vielmehr das für den Transformationserfolg kritische Wechselspiel von wirtschaftlicher und
politischer Reform wieder dermaßen in Bewegung geraten, daß einschneidende marktwirtschaftliche Reformen
entweder mit autoritären Mitteln fortgeführt werden müssen oder den Zielen der in einem pluralistischen System
ebenfalls wirkenden politischen Gegner geopfert zu werden drohen.
Der politische Entscheidungsprozeß bleibt schwer nachvollziehbar. Wer bei Mutmaßungen über künftige
Sicherheitsgefährdungen in und durch Rußland nicht in einem Personalkarussell und Kreml-Astrologie schwindelig
werden will, kommt nicht umhin, die Interessendimension russischer Politik zu berücksichtigen. Gerade deren konkrete
Bestimmung gestaltet sich angesichts der unklaren und schwankenden Machtverhältnisse aber schwierig und es
erscheint verfehlt, von einem sich allmählich stabilisierenden nationalen Interesse auszugehen.
Fragt man angesichts der anhaltenden Ungewißheit der inneren Entwicklung Rußlands nach den Bedrohungen für den Westen, so ist zunächst festzuhalten, daß nicht Moskaus Interessenpolitik per se, sondern allenfalls die hier angewandten Mittel bedrohlich werden können. Eine Verschiebung der regionalen Orientierung nach Südosten erscheint so lange legitim, wie Konflikte gewaltfrei regelbar erscheinen.
Was das Bedrohungspotential Moskaus anbelangt, wird immer wieder zu Recht darauf hingewiesen, daß Rußland zwar noch über erhebliches militärisches, insbesondere nukleares Potential verfügt, daß demgegenüber seine wirtschaftliche und technologische Leistungsfähigkeit aber vergleichsweise gering ist. Daraus jedoch den Schluß zu ziehen, politische und militärische Akteure in Rußland würden aus Schwäche zwangsläufig auf den Einsatz militärischer Instrumente verzichten, erwies sich z.B. beim Tschetschenienabenteuer als falsch. Gefahren gehen weniger von lauter Drohpolitik als von einer auch nach einem potentiellen Machtwechsel mittelfristig anhaltenden Untersteuerung der Politik aus. So lange Machtkämpfe und unkontrollierbare Entscheidungsprozesse die Sicherheitspolitik bestimmen, ist völkerrechtlich unzulässiges, kurzsichtiges Verhalten von seiten Rußlands nicht auszuschließen.
12) Was tun? Perspektiven der Zusammenarbeit mit Rußland
Ungewißheiten, Probleme und Grenzen in der russischen Westpolitik behinderten immer wieder sowohl die
pragmatische Politik, die institutionalisierte Kooperation, als auch die strategischen Überlegungen zu einer künftigen
Friedensordnung. Die europäische Sicherheit hängt noch zu stark vom Engagement der Großmächte ab. Einige
Eckpfeiler für den Bau am "gemeinsamen europäischen Haus" bleiben aber auch während Baukrisenzeiten sichtbar:
Ca. zehn Jahre nach Beginn der Perestrojka und etwa fünf Jahre nach dem Systemwechsel wird deutlich, daß
Transformationsprozesse nur aus den Strukturproblemen und den Reformblockaden des Sowjetsystems verständlich
sind. Die jeweils von Reformschüben unterbrochene Aufeinanderfolge von Reformkrisen zeigt, daß systemimmanente
Beharrungstendenzen bisher immer stärker waren, als die Problemlösungskapazität von Reformversuchen. Wer sich in
der Zusammenarbeit mit GUS-Staaten engagiert, ist daher gut beraten, spezifische historische Traditionen, die
politische und vor allem die ökonomische Kultur dieser Länder, die sich langsamer als wirtschaftliche und politische
Strukturen verändert, zu berücksichtigen.
- Rußland nimmt eine Schlüsselposition in Europa ein. Mittelfristig wird es allein wegen seiner Größe nicht integrierbar sein und muß doch gerade deshalb möglichst weitgehend integriert werden. Das erreichte Maß an gesamteuropäischer Kooperation reicht nicht aus, um potentiellen Eiszeiten im Verhältnis zu Rußland wirksam vorzubeugen, vielmehr deuten die Trends einer zweiten NATO-Osterweiterung geradezu in diese Richtung. Anstelle mit einer NATO-Osterweiterung eine Verhärtung in Moskau zu nähren, sollten die sicherheitsrelevanten Institutionen mit gesamteuropäischer Ausrichtung substantiell gestärkt werden.
- Nicht nur Rußland ist vom Westen weggerückt, auch der Westen hat sich wieder von Rußland distanziert. Ein friedlicher und sozial verträglicher Systemwechsel in dem größten Reformland läßt sich aber nicht durch Routineleistungen und Männerfreundschaften bewältigen, sondern bleibt nach wie vor eine strategische Aufgabe, die eine stärkere Öffnung, Mitverantwortung und größeres Engagement Westeuropas erfordert. Ein Beispiel ist die routinisierte finanzielle und wirtschaftliche Unterstützung des Westens für Rußland, die zwar an der Beseitigung protektionistischer Barrieren durch Moskau lebhaftes Interesse zeigt, jedoch z.B. in der Energiepolitik zu wenig Verantwortung übernimmt, um der drohenden Deindustrialisierung des rohstoffreichen Landes Einhalt zu gebieten und Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, indem sie russische Investitionen fördert.
- Die bisherige Unterstützungspolitik der westlichen Staatengemeinschaft für die Transformationsprozesse im GUS-Raum führte zu Desillusionierung und Enttäuschungen auf beiden Seiten. Die Kooperation mit dem Westen erfordert sehr hohe Zivilisations-, Wirtschafts- und Lebensstandards, die in der Bevölkerung der Reformländer entweder zu Desorientierung und Entwurzelung oder gar zu nationalistisch orientierter Verweigerung führen können. In manchen Fällen ist die institutionalisierte Hilfe des Westens außerdem einseitig interessengeleitet. Oft haben westliche Beraterfirmen den größten Nutzen von Kooperationsprojekten. Viele Vorhaben dienen darüber hinaus primär der Exportfinanzierung westlicher Konzerne. So ist es mittlerweile ein offenes Geheimnis, daß Gelder für Erdgaslieferungen aus Rußland gar nicht mehr dorthin gelangen, sondern sogleich zur Kredittilgung in den Westen überwiesen werden.
- Eine betonte und fortgesetzte Einbeziehung Rußlands darf das konsequente Festhalten an der Wertegemeinschaft von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im OSZE-Raum nicht ausschließen. Sanktionen sind im Fall von Menschenrechtsverletzungen möglicherweise konterproduktiv, doch das Spektrum von legitimer Einmischung in innere Angelegenheiten bis hin zu Boykottmaßnahmen ist breiter als es von den westlichen Staaten bisher ausgeschöpft wird. Kritik an der russischen Führung muß nicht zwangsläufig der nationalistischen Opposition in die Hände spielen, sondern kann gerade solche Kräfte stärken, die die Achtung der Wertegemeinschaft anstreben.
- Wirksame und damit zukunftsweisende Kooperation erfordert daher
* die stärkere Berücksichtigung der spezifischen Entwicklungsgeschwindigkeiten und der Erfordernisse vor Ort in den
GUS-Reformstaaten,
* die Abkehr von einseitiger Profitorientierung im Dienste langfristiger, gemeinsamer Überlebensinteressen,
* größeres Gewicht auf eine Stärkung der russischen Zivilgesellschaft (NGOs im Bereich Menschenrechtsschutz und
Ökologiebewegungen),
* lokal begrenzte Hilfe zur Selbsthilfe, verbunden mit einem System von "checks and balances" mit lokalen
Entscheidungsträgern und RepräsentantInnenen sowie der Rücksichtnahme auf soziale Folgen von
Kooperationsprojekten.
- Ein Rückfall in gewohnte Perzeptionen des Ost-West-Konfliktes kann dann verhindert werden, wenn Konflikte und Widersprüche in den Beziehungen zu Rußland bis zu einem gewissen Grade als Voraussetzung zu ihrer Weiterentwicklung verstanden werden, die Kooperation nicht notwendigerweise ausschließen müssen.